Zwei Menschen -Der Schaukasten
 

 "Was ist der Mensch?" - das ist die Kernfrage unserer Existenz. Immanuel Kant hat dieser Frage immerhin die erste Prioritat in der Stufenfolge der Philosophie zugewiesen - vor der Ethik, vor der Religion. Denn die philosophische Anthropologie, die genau diese Frage stellt, enthalt in sich all die weiteren Fragen nach dem, was der Mensch tun soll, was er hoffen darf, was er wissen kann.
0Schon der Titel in Ung-Pil Byens Wewerka-Arbeit provoziert diese Frage wie selbstverstandlich: "Zwei Menschen". Er beschreibt zunachst, was zu sehen ist: zwei Menschen. Charakterisiert sind sie durch eine spezifische Korperlichkeit: der Leib, der Kopf, Arme und Beine, Hande und Fuesse. Diese korperlichen Details stehen in einem sinnvollen Verhaltnis zueinander - es gibt keine kubistische Verunklarung. Die Erfahrung 0unserer eigenen Leibhaftigkeit wird durchaus bestatigt. Dies betrifft auch die Haltung der beiden Menschenfiguren: hockend, nachdenklich, sinnierend, in sich gekehrt und doch den Blick in eine unbestimmte Ferne schweifen lassend. Menschliche Seelenzustande bekommen ihren aeusseren Ausdruck. Unverkennbar liegt in den Figuren aber auch eine gegenlaufige Tendenz zur Moglichkeit der Identifizierung des Menschlich-Koerperlichen.
0Zunachst uberschreiten sie das menschliche Korpermass. Mit einer Hohe von fast 3 Metern liegt es jenseits jeder Erfahrung. Ihr korperliches Volumen ist mit einer ornamentalen Oberflache belegt, die sich selbst mit hochster Imaginationskraft kaum als menschliche Haut lesen lasst.
0Auch sind die Proportionen der Korperteile bei naherer Betrachtung mit den Erfahrungen unseres wiedererkennenden Sehens nicht in Einklang zu bringen. Angesichts naturlicher Korperformen erscheinen sie deformiert. Gewissermassen sind sie in ihrem Zusammenspiel uberdeutlich bis zur Abstraktion aufeinander bezogen. Schliesslich sind die Figuren geschlechtslos. Vor allem aber: sie sindgesichtslos. Die Physiognomie als das entscheidende Identifikationsmerkmal des Menschen gilt uns als Ausweis seiner Individualitat. Hierin unterscheidet der Einzelne sich sinnfallig von allen anderen Menschen. Diese Unterscheidung verweigert Byen vollends. Die Verluste des Individuell-menschlichen in diesen Figuren sind unverkennbar. So orientiert sich ihr Korpermass eben nicht an dem, was man "Lebensgroesse" nennen konnte, sondern an der Funktion des Raumes, aufdas es ausgerichtet ist.
0Die dekorativ-ornamentale Oberflache zeigt ein Muster, wie man es in Raumausstatterladen findet.
Byen hat es sorgfaltig ausgewahlt - er wollte die herbstliche Stimmung einfangen - und er hat es mit grosser Muhe in kleinen Lappchen in einer all-over-Struktur auf das Korpervolumen geklebt. Die Koperteile behandelt er unterschiedslos. Hierarchien vermeidet er bewusst zugunsten einer korperlichen Einheitlichkeit und Ganzheit.
0Auch die Proportionierung der Korperteile unterstutzt die Tendenz zur Vereinheitlichung. Sie sind gedrungen und liegen eng am Korper, so dass sie mit ihm verschmelzen. Die Figure werden zur Skulptur, die formalen Gesetzen gehorcht und nicht den Gesetzen einer naturalistischen Kunstauffassung. Daraus ergibt sich ihre Geschlechts- und Gesichtslosigkeit.
0Der australische Kunstler Ron Mueck (geb. 1958) hat auf der Biennale in Venedig 2001 eine hockende menschliche Figur gezeigt, die in den Eingangsbereich der Corderie eingezwangt war. Auch sie war gefangen in einer Situation der existenziellen Enge. Eigentlich ein Kind (Untitled (boy)), aber mit 4,90 m Hohe ein Monster, zieht es seine asthetische Wirkung aus dem Naturalismus.
0Selbst die Korperbehaarung wurde tauschend echt auf den Korper gebracht. Der Widerspruch zwischen der Einlosung alltaglicher Erfahrung einerseits und dem Unterlaufen des Erfahrungswissens andererseits bezeichnet das Programm Muecks: das allgemein Menschliche am Beispiel eines individuell-menschlichen Daseins.
0Die Figur Muecks ware ohne Muhe indentifizierbar als eine tatsachliche existierende Person, einschliesslich ihrer Geschlechtlichkeit. Dagegen zielt Byen auf einen archaischen Typus und damit auf die Abstrahierung alles Individuellen. Er sucht das, was Henry Moore in der Aztekischen Kunst wie auch in der etruskischen gefunden hat: die Vereinfachung des Figurlichen zugunsten des Typischen bei gleichzeitiger Beibehaltung der "Lebenswarme". Wahrend Moore die hierbei entdeckten "Fugenschnitte" in seinen Skulpturen als Zeichen von gleichzeitiger Einheit und Trennung kultiviert hat - bis in seine figurlichen Zeichnungen, die ihre

Plastizitat durch ein Liniennetz konstituieren - loscht Byen diese aus. Er uberklebt die Schnittlinien der Einzelelemente der Skulptur. Ohne eine solche Segmentierung ware die Gesamtskulptur nicht transportabel und im Pavillon aufstellbar gewesen, sie ist aber fur Byen kein Gestaltungselement. Er konstituiert die ganzheitliche Erscheinung, deren Allgemeingultigkeit wie auch Differenzierung er einerseits durch die Abkehr vom Naturalismus und andererseits durch plastische Gestaltung sowie Oberflachenbehandlung ermoglicht. 0Vergleicht man Byens Ansatz mit dem der kompakten Figurlichkeit, wie sie sich im Werk des uberaus popularen kolumbianischen Malers und Bildhauers Fernando Botero findet, so ist auch hier der Unterschied deutlich.
0Boteros Figuren spekulieren auf die harmlose Wirkung der eindimensionalen Kompression, auf den putzigen Effekt. Dabei darf die verhaltene Geschlechtlichkeit nicht fehlen.
0Von solcherart Oberflachlichkeit ist Byen weit entfernt. Sein Ansatz ist komplex. Er differenziert vielschichtig zwischen den Wirklichkeitsebenen und legt dabei dennoch grossen Wert auf Anmutungsqualitat. Die Schonheit seiner beiden Figuren ist in der ausseren Erscheinung angelegt, kommt doch von Innen und erschliesst eine umfassende innere und aeussere Wirklichkeit.
0War der Wewerka-Pavillon bei Monika Langs Schneewittchen zwar ein glaserner Sarg und doch ein Schatzkastlein mit einer wertvollen Preziose, so ist er bei Byen eher eine Einengung, ein Gefangnis. Rucken an Rucken sitzt das Figurenpaar und blickt in diametral entgegen gesetzte Richtungen uber die Grenzen des Pavillons hinaus. Behausung und Schutz einerseits sind die Existenzbedingungen dieses Paares und andererseits ein transzendierendes Potential, das die Grenzen zu uberschreiten trachtet.
0Ung-Pil Byen aeussert sich in verschiedenen kunstlerischen Gattungen. Malerei spielt dabei eine wichtige Rolle. Er zeigt Bilder von Menschen und von Kopfen von Menschen, die aufgrund ihrer Malweise und Wirklichkeitsauffassung Portrats sein konnten, sich dieser Gattung aber verweigern. Wie in Byens Wewerka-Figuren das Muster der Oberflache und die Abstrahierung der Korperdetails die Individualisierung verhindert, so ist es in seiner Malerei die Grimasse. Er malt verformte Gesichter - verformt nicht durch kunstlerische Mittel, wie z. B. bei Francis Bacon durch malerische Mittel, sondern sie sind verformt auf der Ebene des Gegenstandlichen selbst.
0Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang Byens fotografische Werke. Er fotografiert Personen, die er vor einem fotografierten Portrat derselben Person positioniert. Dieses "Bild im Bild" ist identisch mit dem Bild. Das, was eigentlich ausschliesslich in zeitlicher Abfolge vorstellbar ist - man kann nur vor seinem eigenen Portrat fotografiert werden, wenn es zu einem fruheren Zeitpunkt schon gemacht worden ist - geschieht hier mit Hilfe der aktuellen Manipulationstechniken simultan. So wird im Modus des naturalistischen Abbildes dieses selbst in Frage gestellt. Auch hier wird die Frage der Individualitat und Subjektivitat radikal gestellt, indem die Aura der Einmaligkeit zerstort wird.
0Die kunstlerische Strategie von Ung-Pil Byen setzt nicht auf Provokation. Vielmehr spielt er bewusst mit der Wiedererkennbarkeit und mit allgemeinem Erfahrungswissen, bietet es gewissermassen als anmutungshaften Einstieg in seine hochst komplexe Bildwelt an. Dabei ist auch sein lustvoll-experimenteller Umgang mit den Formen wie auch der humorvolle Umgang mit dem menschlichen Verhalten offensichtlich. Auch seine kleinen, computergenerierten Animationsfilme geben ein Zeugnis davon. So binden sich die Figuren des Wewerka-Pavillons in eine kunstlerische Welt ein, in der das Kleine und das Grosse, das Nebensachliche und das Bedeutende zu einem Einklang finden. Zwei Menschen sind zugleich zwei gottgleiche Figurinen, und als solche doch ebenbildlich zum Menschen.
0Was also ist der Mensch und welches Bild kann man sich von ihm machen?
Die Moglichkeit dieser Frage ist zugleich ihre Antwort. Die Fahigkeit, diese Frage stellen zu konnen, ist allein dem Menschen gegeben. Er allein kann sich ein Bild machen und kann sich vor allem ein Bild von sich selbst machen.

 

Ferdinand Ullrich
Direktor der Museen der Stadt Recklinghausen

 

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